Der unbestimmte Rechtsbegriff
Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung " Der unbestimmte Rechtsbegriff "
Eine Erklärung die Klarheit schafft, um zu verstehen, wie die Judikative diesen unbestimmten Rechtsbegriff anwendet.
Eine Erklärung die Klarheit schafft
Um die Rechtsbegriffe Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung zu verstehen, und zu verstehen wie die Judikative diese anwendet soll an dieser Stelle erst einmal erklärt werden das beide bezeichnen als der. "unbestimmte Rechtsbegriff" gelten.
Doch was ist der unbestimmte Rechtsbegriff und warum ist es wichtig das zu wissen?
Gesetzgebung und Rechtsbegriffe leben davon, dass sie allgemeingültige Regeln und Definitionen schaffen, die für alle gleich sind. Sie geben sozusagen eine für alle gleiche Grundlage. Es gibt in der Realität des Lebens jedoch auch Bereiche, die nicht für alle gleich sein können. Zum Beispiel hat ein Kleinkind eine ganz andere Bedürfnislage als ein Teenager. Aber beide, sowohl das Kleinkind als auch der Teenager haben ein Recht darauf sich "wohlzufühlen". Doch was bedeutet "wohlfühlen"? Für das Kleinkind heißt das z. B. es möchte spielen, mit den Eltern kuscheln oder sich einen Zeichentrickfilm im TV anschauen. Für den Teenager bedeutet es, er möchte sich z. B. mit seiner Clique treffen, abends ins Kino gehen können, ein weit selbständigeres Leben führen als das Kleinkind. Daher kann man also sagen: Der Gesetzgeber kann nicht jeden Sachverhalt regeln oder vorhersehen. Daher gewähren viele Paragrafen eine gewisse Flexibilität in der Anwendung.
" Der unbestimmte Rechtsbegriff "
Man kann also wie folgt definieren:
Unter einem „ der unbestimmte Rechtsbegriff“ versteht man ein Merkmal in einer Norm oder einem Gesetz, welches der Gesetzgeber bewusst nicht genau definiert oder festgelegt hat. Auch hier gibt es Überschneidungen und die Übergänge sind fließend. Um hier Klarheit zu schaffen, bedarf es daher der Auslegung. Dabei sind unterschiedliche Umstände zu bewerten.
Doch warum ist das nun wichtig, um Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung zu verstehen?
Weil das Wohl eines Kleinkindes andere Kriterien erfüllt als das Wohl eines Teenagers. Welche Kriterien das jedoch sind, ist in jedem Einzelfall unterschiedlich. Daher braucht es die Freiheit und den Spielraum der Auslegung, um die unterschiedlichen Umstände bewerten zu können. Es muss jeder Fall einzeln betrachtet werden. Eine Familie wo keine finanziellen Mitteln fehlen gelten die gleichen Definitionen wie für eine Familie wo es ein bisschen knapp bei Kasse ist.
Warum das Familiengericht hohe Hürden hat
Es gibt jedoch Definitionen der Rechtsprechung und der Psychologie (also eine Auslegung) für die Begriffe Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung die als "Leitfaden" gilt.
Der Begriff Kindeswohl. Eine Definition nach Prof. Dr. Harry Dettenborn (Psychologische Definition)
Er definiert Kindeswohl als "die für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes oder Jugendlichen günstige Relation zwischen seiner Bedürfnislage und seinen Lebensbedingungen". Als "günstige Relation" ist anzusehen, "wenn die Lebensbedingungen die Befriedigung der Bedürfnisse insoweit ermöglichen, dass die sozialen und altersmäßigen Durchschnittserwartungen an körperliche, seelische und geistige Entwicklung erfüllt werden. (Dettenborn, Handbuch der Rechtspsychologie, S 577)
Der Begriff der "kindlichen Bedürfnisse" umfasst grundlegende körperliche, psychische und entwicklungsmäßige Bedürfnisse von Kindern, ohne deren zumindest hinreichende Befriedigung eine gesunde, weitgehend ungestörte Entwicklung und die Erfüllung zentraler Entwicklungsaufgaben des Kindes beeinträchtigt werden.
Bei der Beurteilung der Relation zwischen der kindlichen Bedürfnislage und den Lebensbedingungen des Kindes sind auch individuelle kindliche Bedürfnisse zu berücksichtigen, wenn beispielsweise ein Kind aufgrund von Entwicklungsauffälligkeiten, Krankheit, Behinderung, Frühgeburtlichkeit, etc. spezielle Anforderungen an die Erziehungsfähigkeit der Eltern stellt.
In familiengerichtlichen Fragestellungen tritt der Begriff Kindeswohl daher in drei Varianten (Eingriffsschwellen) auf
Diese drei Varianten (Eingriffsschwellen) sind:
- Die Bestvariante
Bei Fragen nach einer kindeswohlorientierten Regelung der elterlichen Sorge oder des Lebensmittelpunktes eines Kindes wird nach der Bestimmung der Bestvariante gefragt. D.h. der optimalen Relation zwischen der Bedürfnislage des Kindes und seinen Lebensbedingungen. - Die Genug Variante
Bei der Bestimmung der Genug Variante geht es um eine günstige, entwicklungsförderliche Relation zwischen kindlichen Bedürfnissen und den Lebensbedingungen des Kindes. - Gefährdungsabgrenzung
Bei Fragestellungen im Rahmen von Kindeswohlgefährdungen geht es um Gefährdungsabgrenzung, d. h. um die Fragestellung, ob die Relation zwischen den Bedürfnissen des Kindes und seinen Lebensbedingungen bereits so ungünstig ist, dass eine Kindeswohlgefährdung festzustellen oder mit ziemlicher Sicherheit zu prognostizieren ist.
Und was ist nun Kindeswohlgefährdung?
Nachdem der Begriff des Kindeswohls erklärt wurde, soll anschließend der Begriff der Kindeswohlgefährdung erklärt werden. Für diese Klärung muss man zunächst unterscheiden zwischen der Definition aus juristischer Sicht und der Definition aus psychologischer Sicht die nicht unbedingt die Sicht des Jugendamtes widerspiegelt.
Juristisch sind aktuell zwei Definitionen im "Umlauf"
- Die Definition des BGH (Bundesgerichtshof)
Eine Kindeswohlgefährdung ist dann gegeben, wenn eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr festgestellt wird, dass bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. - Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verwendet bislang (noch) die folgende, auf einer älteren Formulierung des BGH beruhende Definition
Danach muss für das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung bereits ein Schaden beim Kind eingetreten sein oder eine Gefahr gegenwärtig in einem solchen Maße bestehen, dass sich bei ihrer weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.
Im Kern geht es also aus juristischer Sicht nach der Rechtsprechung des BVerfG und des BGH um die folgenden drei Komponenten für das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung:
- Von der zu erwartenden Rechtsgutsbeeinträchtigung
- Von der zeitlichen Nähe des Schadenseintritts
- Von der Wahrscheinlichkeit des tatsächlichen Schadenseintritts
Das nach dieser Rechtsprechung erforderliche Maß an Gefahr kann allerdings nicht abstrakt bestimmt werden. Vielmehr ist eine rechtliche und fachliche Betrachtung nach wertenden Gesichtspunkten vorzunehmen. Nach der Rechtsprechung erfährt insbesondere der geforderte Grad der Eintrittswahrscheinlichkeit eine Differenzierung nach den jeweiligen Einzelfallumständen.
Nach der Rechtsfigur der Relativität des Gefahrenbegriffs sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadeneintritts umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Damit bestehen zwischen den einzelnen Teilelementen des Gefahrenbegriffs, Verknüpfungen bzw. Abhängigkeiten.
Kindeswohlgefährdung aus psychologischer Sicht
Um nun die juristische Frage, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt zu beantworten, bedarf es einer psychologischen Erklärung, um die juristische Definition zu erfüllen und damit ggf. einen Eingriff in das Sorgerecht/Umgangsrecht rechtfertigen zu können.
Auch an dieser Stelle sei auf die Definition Dettenborns zurückgegriffen. Dettenborn definiert
Kindeswohlgefährdung als "Überforderung der Kompetenzen eines Kindes, vor allem der Kompetenzen, die ungenügende Berücksichtigung seiner Bedürfnisse in seinen Lebensbedingungen ohne negative körperliche und/oder psychische Folgen zu bewältigen."
Kindeswohlgefährdung ist daher nicht allein von den erzieherischen Komponenten der Eltern abzuleiten. Vielmehr spiegelt Dettenborns Definition die Komplexität der Bestimmung einer Kindeswohlgefährdungslage wider, die sich aus dem Zusammenwirken defizitärer erzieherischer Kompetenzen der Eltern, den kindlichen Bedürfnissen und den Bewältigungsressourcen des Kindes für suboptimale Erziehungsbedingungen ergibt.
Unter kindlichen Bewältigungsressourcen sind unter anderem die inner- und außerfamiliären sozialen Unterstützungsressourcen und die individuellen Resilienzfaktoren des Kindes zu sehen und bei der Beurteilung einer möglichen Kindeswohlgefährdung ebenso in den Blick zu nehmen wie die erzieherischen Kompetenzen der Eltern und die körperliche und psychische Verfassung des Kindes. Aus diesem Zusammenhang wird deutlich, dass bei der Beurteilung aus psychologischer Sicht, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, also auch die Resilienz des Kindes zwingend Berücksichtigung finden muss.
Was versteht man unter Resilienz?
Unter Resilienz wird eine verminderte Verletzlichkeit bzw. große Widerstandsfähigkeit gegenüber negativen Erfahrungen, Stress und Entwicklungsrisiken verstanden, die als Schutzfaktor die Auswirkung von Risikofaktoren moderieren und kompensieren kann. (Risiko-Schutzfaktoren Modell) Es werden drei Resilienz Phänomene unterschieden:
- eine gesunde Entwicklung trotz kumulierter (mehrerer Verschiedener) Risikofaktoren
- die Aufrechterhaltung von Kompetenzen auch unter Belastungsereignissen und
- die Erholung von traumatisierenden Einwirkungen
Eine Gefährdung des Wohls des Kindes ist nicht gleich Kindeswohlgefährdung
Widrige Lebensumstände und Risikosituationen führen nicht "automatisch" zu Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung, welches eine Bedingung für einen staatlichen Eingriff in das Sorgerecht ist. Die Auswirkungen defizitärer(benachteiligte) Fürsorgeerfahrungen auf die Entwicklung des Kindes werden durch die Bewältigungsstrategien des Kindes bestimmt. Die Bewältigungsstrategien basieren auf den Bindungserfahrungen, der Verletzlichkeit und der Resilienz des Kindes (psychische Widerstandskraft).
Resilienz wird im Verlauf der Entwicklung im Zusammenhang mit der Kind-Umwelt-Interaktion erworben und beruht auf personalen Ressourcen des Kindes (unter anderem Temperamentsmerkmale, Problemlösungsfertigkeiten, Sozialkompetenz, Selbstwirksamkeitsüberzeugung) und sozialen Ressourcen innerhalb und außerhalb der Familie. Allgemeine oder schematische Aussagen können in diesem Zusammenhang nicht getroffen werden. Bei nicht optimalen Fürsorgebedingungen in der Familie können unterstützende, emotionale Vertrauensbeziehungen zu Personen außerhalb der Kernfamilie (z.b. Großeltern, Nachbarn, Lehrern) entscheidende Quellen emotionaler und sozialer Unterstützung darstellen und Negativauswirkungen der innerfamiliären Mangelerfahrungen auf die Entwicklung des Kindes abfedern. Die Erfahrung wenigstens einer zuverlässigen, positiv-emotionalen Beziehung zu einer Bezugsperson kann die psychische Widerstandskraft von Kindern gegenüber Belastungen nachhaltig stärken. Insofern müssen bei der Einschätzung einer Gefährdungs- oder Risikosituation auch Fragen nach den personalen und sozialen Bewältigungsressourcen des betroffenen Kindes gestellt werden.
- Über welche Bewältigungsstrategien und -Ressourcen verfügt das Kind?
- Ermöglichen die Bewältigungsstrategien und -Ressourcen des Kindes eine funktionale Belastungsbewältigung im Hinblick auf die festgestellten familiären Belastungen/Mangelsituationen, etc.?
- Sind Hinweise auf Überforderung der Bewältigungsressourcen des Kindes festzustellen?
Wenn die Bewältigungsstrategien und -Ressourcen des Kindes überfordert werden oder dekompensierten bzw. zusammenbrechen, äußert sich dies in Belastungsanzeichen, Fehlentwicklungen, Symptomen (Krankheitsanzeichen) und/oder Entwicklungsbeeinträchtigungen.
Fazit
Die Beurteilung, Bewertung und Auslegung der Begriffe Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung ist ein komplexes Zusammenspiel vieler Faktoren. Die Bewertung ist eine Grenzwert - bzw. Schwellenbestimmung. Eine Auslegung die aus dem Umkehrschluss: "wenn es nicht dem Kindeswohl entspricht, ist es eine Kindeswohlgefährdung" sollte dringend vermieden werden.
Risikofaktoren wirken ebenso wie Schutzfaktoren kumulativ (sich addierend). Schutzfaktoren können Risikofaktoren kompensieren und somit die juristische Definition der Kindeswohlgefährdung aufheben/verneinen. Dieser Umstand hat dann zur Folge, dass ein staatlicher Eingriff in das Sorgerecht abzulehnen ist.
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